Handlungsbedarf: Rückkehr der Sündenböcke
Erstmals nach 1945 stehen Sündenböcke ganz oben auf der Agenda eines Bundeskanzlerkandidaten. Wird das am Wahltag belohnt? Kommentar: Alexander Pollak, Illustration: Petja Dimitrova
Luegers Hauptsündenbock waren „die Juden“
Vor 1945 waren Sündenböcke ein wichtiger Teil der Politik, beispielsweise bei Karl Lueger, der von 1897 bis 1910 Wiener Bürgermeister war. Lueger war populär. Er erzeugte seine Popularität unter anderem damit, Menschen gegeneinander auszuspielen. Hauptsündenbock für seine Christlichsoziale Partei waren „die Juden“: „Hier in unserem Vaterlande Österreich liegen die Verhältnisse so, daß sich die Juden einen Einfluß erobert haben, der über ihre Zahl und Bedeutung hinausgeht. In Wien muß der arme Handwerker am Samstag nachmittag betteln gehen, um die Arbeit seiner Hände zu verwerten, betteln muß er beim jüdischen Möbelhändler.“
Gleichberechtigung aller BürgerInnen in Gefahr
Kaiser Franz Josef I. lehnte die Ernennung Luegers zum Wiener Bürgermeister mehrmals ab. Der Kaiser sah die Gleichberechtigung aller BürgerInnen in Gefahr. Erst nach jahrelangem Ringen stimmte er der Ernennung Luegers doch zu. Gegen Ende seiner politischen Karriere stellte Lueger seine Sündenbockpolitik als Strategie dar: „Ja, wissen S’, der Antisemitismus is’ a sehr gutes Agitationsmittel, um in der Politik hinaufzukommen.“
Jörg Haider brachte Sündenbockstrategie zurück
Mehr als hundert Jahre später gehört der Fingerzeig auf Sündenböcke wieder zur politischen Strategie in Österreich. Jörg Haider brachte diese Strategie zurück ins Spiel. Jetzt steht sie erstmals ganz oben auf der Agenda eines Bundeskanzlerkandidaten.
Ausländer als Schuldige
Die Tonalität dieses Kandidaten ist nicht so scharf wie jene Haiders oder Luegers, aber die Botschaften sind klar: Ausländer und insbesondere Flüchtlinge seien Mitschuld daran, dass die Abgabenquote in Österreich über 40 Prozent liege. Erstere würden „ins Sozialsystem zuwandern“ und zweitere würden „zu viel kosten“. Zudem würden Migranten die Kosten für das Gesundheitssystem in die Höhe treiben, sagt Sebastian Kurz.
Menschen zweiter Klasse
Kurz zeichnet ein Bild von MigrantInnen und Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft als Belastung für den Staat und als Menschen, die nicht zur österreichischen Bevölkerung gehören. Dass sie ein wichtiger Teil der Gesellschaft und auch Wirtschaft sind und oft schon lange in Österreich leben oder sogar hier geboren sind, wird in den Hintergrund gedrängt. Geflüchtete Frauen, Männer und Kinder kommen in der Rhetorik des Kanzlerkandidaten überhaupt nur noch als Menschen zweiter Klasse vor. Diesen Menschen solle man, wenn sie bedürftig sind, weit weniger Unterstützung geben als anderen Menschen in Österreich, sagt Kurz.
Kaltes Kalkül
Der ÖVP-Kandidat betreibt seine Sündenbockrhetorik nicht aus einer Emotion heraus, sondern aus kaltem Kalkül. Er weiß: Das Spiel mit Sündenböcken macht oftmals populär. Er weiß auch: Sündenböcke helfen dabei, die eigene Klientel aus Abgabendiskussionen herauszuhalten und von Steuerprivilegien, die etwa Vermögende und Konzerne genießen, abzulenken. Zudem weiß Kurz auch: Geplanter Sozialabbau lässt sich besser verkaufen, wenn man ihn als Maßnahme gegen „die Fremden“ bzw. gegen Menschen zweiter Klasse darstellt.
MuslimInnen abstempeln
Sein Sündenbockrepertoire vollendet Kurz, indem er eine religiöse Minderheit pauschal als „Problemgruppe“ abstempelt. Er charakterisiert MuslimInnen kollektiv als unfähig, einen qualitativ hochwertigen Kindergarten zu leiten. Und er fordert, wenn es um die Genehmigung von Betreuungs- und Bildungseinrichtungen geht, offen die Diskriminierung von MuslimInnen ein.
Selbstdarstellung als Opfer
Wird der Kanzlerkandidat auf seine Sündenbockpolitik angesprochen, weicht er geschickt aus, und sagt, er würde bloß Probleme ansprechen und müsse dafür viel Prügel einstecken – er, das eigentliche Opfer.
Reifeprüfung
Der 15. Oktober ist ein wichtiger Wahltag. Er ist auch eine Reifeprüfung für die Bereitschaft, das Spiel mit Sündenböcken zu belohnen.
Von Alexander Pollak zuletzt erschienen:
Alexander Pollak
Zwanzig Erfolgsfaktoren der extremen Rechten.
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ISBN: 978-3-744819503
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