Leben und Tod
Politik ist eine Frage von Leben und Tod. Aber wer bestimmt darüber? Eine Kolumne von Martin Schenk im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Illustration: Petja Dimitrova
Die jährliche Unterstützung wurde um 100 Euro erhöht, mit der jede Familie Schulsachen für die Kinder kaufen kann. „Wir fahren ans Meer“, hat Vater gerufen. Seine Freude war so groß, dass er zur Feier mit der ganzen Familie an die See gefahren ist. Der 30-jährige Schriftsteller Edouard Louis erzählt aus seiner Kindheit in Frankreich. Sein Vater ist Arbeiter mit kleinem Einkommen, die Familie kommt gerade so durch. „Bei denen, die alles haben, habe ich nie gesehen, dass eine Familie ans Meer fährt, um eine politische Entscheidung zu feiern“, schreibt Louis. „Die Herrschenden mögen sich über eine Linksregierung beklagen, sie mögen sich über eine Rechtsregierung beklagen, aber keine Regierung bereitet ihnen jemals Verdauungsprobleme, keine Regierung ruiniert ihnen jemals den Rücken, keine Regierung treibt sie jemals dazu, ans Meer zu fahren.“ Louis resümiert: „Für die Herrschenden ist die Politik weitgehend eine ästhetische Frage: eine Art, sich zu denken, sich zu erschaffen, eine Weltsicht. Für uns ist sie eine Frage von Leben und Tod.“ Der Vater ist mittlerweile nach einem harten Arbeitsleben in der Fabrik und Phasen der Arbeitslosigkeit schwer krank.
In Österreich liegen 10 Jahre Lebenserwartung zwischen arm und reich. Soziale Ungleichheit geht unter die Haut. Politik ist eben eine Frage von Leben und Tod. Aber wer bestimmt darüber? Das ärmste Drittel der Bevölkerung in Österreich geht zu 41 Prozent nicht wählen, beim reichsten Drittel sind es bloß 17 Prozent. Beim untersten Drittel kommen noch alle dazu, die gar nicht wählen dürfen, hier aber ihren Lebensmittelpunkt haben, hier geboren sind, hier arbeiten. Auch der Großteil dieser Menschen befindet sich im untersten Drittel der Bevölkerung, sie sind beschäftigt am Bau, in der Reinigung oder im Handel. Im Parlament sind also die Interessen des oberen und mittleren Drittels vertreten, die des untersten Drittels nicht. Die Gesetze werden deshalb auch für das oberste und bestenfalls für das mittlere Drittel gemacht, das untere Drittel wird übersehen. Dabei geht es für dieses um Leben und Tod. Die Mehrzahl der Menschen im ökonomisch schwächsten Drittel hat den Eindruck, ihre Stimme zählt nicht. Kein Wunder. Ein Teufelskreis.
Martin Schenk ist Sozialexperte der Diakonie in Österreich.
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